"Chronically online" ist vorbei
Im "Internet zu leben", galt lange als progressiv und zeitgeistig. Nun wünschen sich selbst junge Menschen eine Welt ohne Netz.
Meine Entschuldigung, dass es mal wieder länger gedauert hat mit dem Newsletter, ist schon fast zum Standard-Einstieg dieses Substacks geworden. Diesmal passt er aber sogar ganz gut zum Thema. Aber anstatt mich zu entschuldigen, dass hier nicht permanent neue Texte stehen, will ich es mal mit dem Gegenangriff probieren und behaupten: besser so!
Bis vor Kurzem galt es noch als cool, sich als “chronically online” zu bezeichnen: Immer im Netz, am Puls der Zeit, bei den jungen Menschen, die dort 24 Stunden am Tag aufregende, neue Sachen machen. Die Älteren verstanden das alles nicht, fanden es deswegen irrelevant und wollten das Internet gerne wieder abschalten, anstatt sich ihm zu öffnen.
So wollte man nicht sein. Wer sich also bei diesen jungen Leuten beliebt machen wollte, sie “dort abholen wollte, wo sie sind”, posierte auf seinem Autorenfoto mit Smartphone, gab in der Bio an “quasi im Netz zu leben”, postete den ganzen Tag seine Insta-Stories voll und war up to date, was Memes und Netzsprache betrifft. Ich habe das vage Gefühl, dass diese Art von “Online-Coolness” nun tatsächlich vorbei ist.
Ich meine das gar nicht (nur) mit Blick aufs eigene Wohlbefinden. Und ganz sicher auch nicht als “Die Alten hatten schon immer recht”-Einsicht. Sondern tatsächlich als eine Art Imagefrage. Dauerpräsente Medien, Menschen und Marken machen längst keinen edgy Eindruck mehr, wenn sie oder deren Botschafter sich als “internetsüchtig” bezeichnen. “Netzkultur” im eigentlichen Sinne gibt es kaum noch, die Plattformen sind geflutet von Engagement-Baits, KI-Trash und Bots, die sich zunehmend nur noch gegenseitig bespaßen.
Den neuesten Mikro-Trends hinterherzurennen, Memes zu erklären, virale TikToks nachzuerzählen – all das wirkt heute irgendwie verzweifelt und… gestrig. “Chronically online” ist mittlerweile der rechtsradikale Boomer-Onkel – und es tut ihm wahrlich nicht gut. Wenn ich spontan Menschen nennen müsste, die ständig online sind, fallen mir als erstes Elon Musk oder Donald Trump ein. Der Niedergang der Online-Coolness zeigte sich für mich im “Brat-Summer” 2024, an dessen Ende klar war, dass sich mit ein bisschen Netzkultur-Aura eben doch keine Wahlkämpfe umdrehen ließen.
Passend zu meinem Gefühl gibt es nun eine britische Studie unter jungen Menschen. 68 Prozent der Befragten sagten, dass die Zeit auf sozialen Medien schlecht für ihre psychische Gesundheit sei. 50 Prozent wünschen sich dort eine Art Zwangs-Beschränkung ihrer Online-Zeit, mit 46 Prozent sehnten sich nur nur etwas weniger nach einer Welt ganz ohne Internet:
The research reveals that nearly 70% of 16- to 21-year-olds feel worse about themselves after spending time on social media. Half (50%) would support a “digital curfew” that would restrict their access to certain apps and sites past 10pm, while 46% said they would rather be young in a world without the internet altogether.
Natürlich ist die Sehnsucht nach einer Prä-Internet-Ära, die man selbst gar nicht erlebt hat, tendenziell folgenlos. Ich glaube auch nicht, dass das nun wirklich das “Ende von Social Media” ist, in den Feuilletons schon so oft beschworen, dass es schon fast eine eigene Textgattung ist. Aber ich würde behaupten, dass Offline-Sein, und sei es auch erstmal nur performativ, das Online-Sein als als Statussymbol ablöst, auch und gerade bei Jüngeren. Entsprechend reagiert man mit Abneigung auf all jene, die einen mit permanenten Updates, Notifications und Push-Meldungen zurück ans Smartphone holen wollen. Und vermisst jemand wirklich die “So reagiert das Netz”-Texte?
Ich hoffe, ihr mögt mich weiterhin. Ich schreibe hier auch weiterhin verlässlich selten, versprochen!
Bis nächste Woche
Quentin