Warum Bluesky das Beste ist, was wir derzeit haben
Oder: Viele Argumente gegen den Plattform-Umzug sind weniger schlau, als sie klingen.
Zunächst einmal: Dieser Newsletter fällt heute etwas kürzer (und vielleicht auch wirrer) aus, da ich gerade für ein paar Tage auf Recherche in Tel Aviv war und meine Deadline für die daraus zu entstehende Reportage nur bedingt wegprokrastinieren kann. Schreiben für Geld geht vor! Überhaupt nicht hilfreich bei meinem Vorankommen mit dem Schreiben ist allerdings, dass mich gerade ein neues Ablenkungs-Tool mit Notifications bombardiert: Bluesky.
Meinen Account dort habe ich schon ein Weilchen, bis vor Kurzem fand ich es dort aber etwas fad. Alle waren arg nett, ironiebefreit – und Posts waren oft eine einzige “Gott sei Dank ist das hier nicht X und wir sind uns alle über alles einig”-Affirmation. Außerdem fehlten mir bis auf wenige Ausnahmen die Themen-Bubbles, die Twitter für mich so spannend gemacht hatten: Wissenschaftlerinnen und Experten aus verschiedenen Regionen des Planeten, ein Blick über den Tellerrand des deutschen dauerschleifenden Aufreger-Diskurses.
In den Wochen nach der Trump-Wahl hat sich das verändert. Nicht nur sind die Nutzerzahlen von Bluesky beachtlich gewachsen, auch seine Features zeigen mittlerweile, dass Bluesky mehr sein kann als ein Twitter-Klon: Mit Themen-Starterpacks kann man sich in kürzester Zeit einen Expertinnen-Feed zu den jeweiligen Interessen zusammenstellen, die algorithmische Sortierung lässt sich problemlos abschalten. Hoffnungsvoll stimmt mich auch, dass mittlerweile viele Leute da sind, deren Meinung ich verlässlich nicht teile.
Noch dazu soll das Ganze dezentral und fediverse-tauglicher werden, was das alte Problem des “platform risk” minimieren könnte: Wenn eine Plattform dichtmacht oder ein rechtsextremer Millardär sie kauft, kommt man als Nutzer bisher kaum von ihr weg, ohne seine Follower-Basis aufs Spiel zu setzen. Sollte Bluesky irgendwann zugrunde gehen, ließen sich Follower und Inhalte, so zumindest der Fediverse-Ansatz, etwa zu Mastodon (meiner Meinung nach die wünschenswertere Twitter-Alternative) oder anderen Plattformen retten. Bluesky selbst ist zwar in meiner Wahrnehmung noch nicht “billionaire-proof”, hat aber zumindest eine kleine Aussicht darauf, es zu werden.
Nicht alles an Bluesky ist perfekt, auf die offene Frage einer maßvollen Content-Moderation habe ich zum Beispiel noch keine Antwort gesehen. Aber, wie es der Tech-Journalist Brian Merchant schreibt (Abo-Empfehlung!), reicht erst einmal schon der “refreshing sense that someone is actually successfully building a place on the internet with users, not consumers, in mind” um dem Ganzen eine Chance zu geben.
Natürlich gibt es ein paar Leute, die Bluesky nicht viel abgewinnen können und/oder an X festhalten wollen. Nicht weil sie Musk unterstützen, sondern aus einer idealistischen Pose heraus, die ich ehrlicherweise nicht verstehen kann. Ein Punkt, nicht zuletzt von Robert Habeck nach seinem (letztlich rein wahlkampftaktisch bedingten) Twitter-Comeback angesprochen: Wer X verlasse, wähle den mache es sich leicht, und überließe “Schreihälsen und Populisten”.
Den ersten Teil des Arguments verstehe ich nicht, weil es - zum Beispiel mir selbst - wahnsinnig schwer fällt, meinen X-Account endgültig zu löschen. Er ist zwar einigermaßen stillgelegt, da ist aber immer noch ein kleines Stückchen Resthoffnung, dass Musk die Lust an seinem Spielzeug verliert und ich meine über 15 Jahre hinweg aufgebaute Followerschaft behalten kann. Ich versuche diese auf alle anderen Plattformen umzuleiten, aber den “Lösch”-Button zu drücken, das habe ich tatsächlich noch nicht übers Herz gebracht (hoffentlich bald!). Das ist überhaupt nicht leicht!
Das Argument, dass man durch einen X-Exodus den “Schreihälsen” das Feld überlässt, haben bereits andere sehr gut entkräftet. Würde man – etwa als Journalist – dieser Argumentation folgen, müsste man sich verpflichtet fühlen, kostenlose Gastbeiträge für den Springer-Verlag zu schreiben. Ich fände es interessanter, mal darüber nachzudenken, wie schlimm die zu Tode zitierten “Filter-Bubbles” denn wirklich sind, wie es zum Beispiel dieser Beitrag tut.
In einem Pro-Contra-Beitrag bei Zeit Online kam noch ein weiteres Argument zur Sprache, das ich nicht nachvollziehen kann: “Nach allem, was man über Elon Musks fragiles Ego weiß, wird ihn übrigens nichts mehr ärgern als Menschen, die ihm immer und immer wieder widersprechen. Vor allem, wenn sie dort Tausende Follower haben und die das auch noch teilen.”
Diese Argumentation hat fast schon Vintage-Faktor, erinnert sie doch an die glücklichen Tage vor der ersten Trump-Ära. Nach allem, was man mittlerweile über Trolle jeder Art weiß, leben sie nicht zuletzt von der Empörung der Gegenseite. Man schwächt sie nicht durch Präsenz auf deren Plattformen und permanenten, sie reproduzierenden Widerspruch, sondern durch das Ignorieren ihrer Bullshit-Inhalte und – noch wichtiger – einen Gegenentwurf.
Vielleicht kann Bluesky ein Ort für solche Gegenentwürfe sein, vielleicht auch nicht. Vielleicht nehmen aber auch 100 Journalist*innen in Deutschland die ganze Twitter/X/Bluesky-Debatte viel zu ernst, mich eingeschlossen.
Bis nächste Woche, genau genommen schon Ende der Woche!
Quentin