Zeit der falschen Monster-Zitate
Von Ezra Klein bis Rolf Mützenich raunen gerade alle von einer "Zeit der Monster", angeblich ein Zitat von Antonio Gramsci. Der hat das so allerdings nie gesagt.
Ich weiß nicht, wann ich dieses verdammte Gramsci-Zitat zum ersten Mal gelesen habe, es muss vor mindestens zehn Jahren gewesen sein:
„Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Jetzt ist die Zeit der Monster.“
Der erste Teil variiert immer ein bisschen, mal ist die Rede von besagter „alter Welt“, mal einfach von „dem Alten“. Mal heißt es, die neue Welt sei noch „nicht geboren“, manchmal „kämpft“ sie darum, geboren zu werden. Die „Zeit der Monster“ ist jedenfalls immer dabei. Wobei die „Monster“ dann jeweils das Übel darstellen sollen, gegen das sich der Text wendet.
Das Monster-Zitat hat gerade wieder Hochkonjunktur, sei es in Essays von Ezra Klein, in zig Feuilleton-Texten, einem Gastbeitrag von Rolf Mützenich oder kürzlich sogar in einer Rede vom Chefs des deutschen Heeres.
Meist wird darauf verwiesen, dass Gramsci mit seinen Worten den aufziehenden Faschismus in Europa erahnt hat. Übertragen auf unsere Zeit will der Zitierende eine ähnliche Zeitenwende erkannt haben, unabwendbar in ihrer historischen Logik: Nach einer Stabilität ohne Bösewiche übernähmen nun die Monster, meist sind es Trump, Putin, Xi, der Zerfall der Gesellschaft oder die AfD. Die Autoren spüren den Anbeginn einer totalitären Epoche, ganz im Sinne von Gramscis Schriften in den “Gefängnisheften”, verfasst zwischen 1929 und 1935.
Auch wenn man dieser Gegenwartsanalyse zustimmt, gibt es ein Problem: Gramsci hat das nie so gesagt. Die historische Parallele ist mindestens schief. Und den Faschismus meinte er wahrscheinlich auch nicht so wirklich.
Zunächst mal: Die Worte von Gramsci klingen im italienischen Original weit weniger raunend als die „Monster“-Version:
„La crisi consiste appunto nel fatto che il Vecchio muore e il nuovo non può nascere: in questo interregno si verificano I fenomeni morbosi più svariati”
Also auf Deutsch:
“Die Krise besteht gerade darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann: In diesem Interregnum treten die vielfältigsten morbiden Erscheinungen auf.“
Aus heutiger Social-Media-Zitatkachel-Sicht würde man wohl sagen: ganz schön sperrig. Und damit sind wir vielleicht auch schon bei einem Teil des Problems. Die falsche Version, wahrscheinlich entstanden aus einer seeehr freien Übersetzung von Slavoj Žižek im Jahr 2010, sie knallt einfach zu gut.
So gut, dass sie in ihrer Dauer-Anwendung auf die Gegenwart fast schon den Charakter eines Memes bekommen hat, genau wie etwa das zu Tode zitierte “Ende der Geschichte” von Fukuyama. Oder die Erkenntnis, dass etwas “kein Sprint, sondern ein Marathon” sei. Oder die seit Kurzem frisch ausgegrabene Weisheit, dass ja nur Nixon nach China gehen konnte. Neulich bin ich auf Bluesky sogar auf ein italienisches Plakat gestoßen, das die falsche Zizek-Übersetzung wieder ins Italienische übertragen und Gramsci zugeschrieben hatte:
Zur wackeligen historischen Parallele: Gramsci saß beim Verfassen der “Gefängnishefte”, wie der Name schon sagt, im Gefängnis der italienischen Faschisten. Der Anbeginn einer faschistischen Ära, passend zum “Es ist fast wieder 1933”-Gefühl heute, ist für ihn also eigentlich schon verstrichen. Was ihn im Detail beschäftige, wird in den “Monster”-Texten meist kaum beschrieben – wer liest schon gerne 2000 Seiten Gefängnishefte (Transparenzhinweis: Ich habe sie auch nie komplett gelesen)?
Der Politologe Gilbert Achcar kennt sich hier offenbar besser aus, von ihm stammt die bereits erwähnte These, dass die “fenomeni morbosi”, also die falsch als “Monster” übersetzten “morbiden Erscheinungen” nicht unbedingt die Diktatoren Europas oder der Faschismus waren, sondern eher eine innerlinke Angelegenheit:
One of Gramsci’s most quoted phrases is his 1930 statement in the Prison Notebooks that ‘[t]he crisis consists precisely in the fact that the old is dying and the new cannot be born; in this interregnum a great variety of morbid symptoms appear’. This has traditionally been taken to refer to the emergence of fascism against a background of capitalist crisis and failure of anti-capitalist forces. However, a closer examination of the textual and historical context of that sentence indicates that Gramsci was more likely to have been referring to the pci’s ultraleft turn in conjunction with the Comintern’s Third Period.
Achcar stimmt dennoch zu, dass sich die Gegenwart wie ein Übergang anfühlt, bei der Linke und Progressive zunehmend auf der Strecke bleiben, während die Rechte profitiert:
“We have re-entered a situation where the old is ‘already’ dying and the new can ‘not yet’ be born. The hitherto weakness and fragility of the forces of progressive change have meant that the accelerating crisis of the socio-economic and political conditions of global capitalism has until now mostly benefitted the rise of the far right around the globe.”
Ein Teil des Problems ist dabei, und hier kommen wir mal zu meiner eigenen Gegenwartsanalyse, der heutzutage um sich greifende Doomerism, der sich auch in der permenanten Verwendung des “Monster”-Zitats wiederspiegelt. Anstatt uns zu vernetzen, zu bilden, ins Handeln zu kommen oder wenigstens Zitate nach ihrer Herkunft zu überprüfen, posten wir resignative Sprüche in soziale Medien.
Gramscis weit produktivere Konzepte von Hegemonie oder historischen Blöcken finden unterdessen eher bei Rechtsextremen Anwendung, die sich bei ihren Pseudorevoluzzer-Aktionen teilweise direkt auf die eigentlich linken Gedanken von Gramsci oder Althusser berufen.
Wir dagegen gruseln wir uns vor der Gegenwart und fühlen uns wie die neuen Gramscis, obwohl uns dessen analytische Tiefe und Aktionismus längst fremd geworden sind – und obwohl wir noch längst nicht im faschistischen Gefängnis sitzen. Vielleicht einfach mal Gramsci lesen, also so richtig.
Bis nächste Woche!
Quentin